Das komplexe Zusammenspiel von Fasziengewebe, Funktionsketten
und Bewegungsapparat ist noch nicht genau erforscht. Neue
Erkenntnisse machen jedoch die physiologischen Veränderungen
in der Schwangerschaft besser verständlich. Sie können so zu einer
gezielten Therapie beitragen.
David Boeger
Die deutsche Bezeichnung für Fasziengewebe ist Bindegewebe. Dieser Begriff beschreibt sehr treffend das multifunktionelle allgegenwärtige Organ des Körpers. Es wird auch als das form- und raumgebende Organ bezeichnet. Seine dreidimensionale Vernetzung scheint keinen Anfang und kein Ende zu haben. Es schafft Räume, Kammern, Taschen und Beutel für die verschiedenen Zelltypen des Körpers. Diese Zellen sind häufig ebenfalls Teil des Bindegewebes. Das Bindegewebe verbindet funktionell Gleiches miteinander und trennt angrenzende Strukturen voneinander. Die Architektur des Bindegewebes wird mittels verschiedener Modelle beschrieben, die so in der Anatomie nicht anzutreffen sind. Faszien sind wie die Menschen, individuell und entsprechend vielfältig.
Es ist in der Anatomie üblich, dass man zum besseren Verständnis bei Modellen nur Teilausschnitte des Systems darstellt und diese in einzelne Glieder unterteilt. Die Aneinanderreihung dieser Glieder nennt man Funktionsketten. Diese sind in jeder Körperregion zu finden. Ihnen allen ist eines gemeinsam: ihr räumlicher Anker, die Wirbelsäule. Sie wird auch das Achsenorgan genannt. Von ihr gehen alle Arten der Bewegung aus. Die Wirbelsäule ist nicht nur Fixpunkt aller Muskelketten, sondern auch aller Organe, der Brust, des Bauchs und der Beckenregion. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Organsäule, welche die Positionierung der Wirbelsäule bedingt. Dieser Aspekt ist für eine ursachenorientierte Therapie wesentlich und verdient speziell in der Schwangerschaft Beachtung.
Alle Körpertherapien der Vergangenheit haben sich mit dem Bindegewebe beschäftigt. Je nach Zeit, Periode, AutorInnen oder Ländern erhielten sie ihre eigenen Namen und Definitionen. Der US-amerikanische Arzt Dr. Andrew Taylor Still entwickelte Ende des 19. Jahrhunderts die Osteopathie und ist als einer der wichtigsten Pioniere in der Faszientherapie zu nennen. Er beeinflusst mit seinen Ideen und therapeutischen Techniken die Forschung bis heute.
Die Struktur des Bindegewebes
Die Schulmedizin behandelte die Faszien lange Zeit als unwesentliches Füllmaterial, das in den anatomischen Atlanten auch heute nur zum Teil aufgeführt und benannt wird. So stößt man bei Recherchen in der osteopathischen Literatur auf Bezeichnungen von Strukturen, die in schulmedizinischen Büchern nicht aufgeführt werden. Oder es existieren mehrere Namen für die gleiche Struktur. Dies macht das Erfassen der anatomischen Grundstrukturen nicht einfacher. Da das Benennen der Struktur aufgrund
der unterschiedlichen Aussagen der verschiedenen Quellen oft nicht eindeutig möglich ist, wird auch die Beschreibung der Funktion zu einem schwierigen Unterfangen. So ist die komplexe funktionelle Bedeutung des Bindegewebes bislang nur vereinzelt und bruchstückhaft untersucht und erfasst worden.
Die Entstehung der Faszien
Die Bildung des Körpers durchläuft nach der Befruchtung eine Vielzahl von Entwicklungsschritten. Ab dem 17. Tag ist die Reifung so weit vorangeschritten, dass man die drei sogenannten Keimblätter definieren kann. Das Fasziengewebe geht aus dem Mesoderm hervor. Dieses bildet noch eine ganze Reihe von anderen Organen. Aus diesen und anderen Anlagen formt sich Schritt für Schritt der menschliche Körper. Die Positionierung und Formung der Organe, das Entstehen der verschiedenen Räume des Rumpfes und die funktionellen Anordnungen der Muskulatur werden in den ersten Wochen nach der Befruchtung angelegt. In der neunten Entwicklungswoche kommt es im letzten großen Schritt zur Bildung der äußeren
Geschlechtsorgane. Danach beginnt der raumfordernde Prozess des kontinuierlichen Wachsens, bis der Geburtsprozess die Schwangerschaft beendet.
Form follows function
Die strukturelle Beschaffenheit der unterschiedlichen Bindegewebsarten lässt sich auf die von ihnen zu erfüllenden Funktionen zurückführen. Das Bindegewebe besteht aus zellulären Substanzen, die in fixe und mobile Zellen unterteilt werden, und aus extrazellulären Bestandteilen. Letztere werden auch als Matrix
bezeichnet. Diese besteht primär aus drei Arten von Molekülen: den Strukturproteinen (Kollagen und Elastin), den nicht kollagenen Proteinen und der Grundsubstanz, die Zellen und Fasern miteinander verbindet und Wasser einlagert.
Die Kollagenfasern Typ 1 sind die dominanten Fasern im Bindegewebe. Diese Fasern setzen sich aus spiralig geformten Kollagenen und Mikrofibrillen zusammen. Der Aufbau dieser Eiweißketten lässt sich mit der Struktur eines Stahlseils vergleichen. Sie haben eine wellenförmige Form, die eine Erweiterung durch Zug gestattet. Grundsätzlich gewährleistet das Bindegewebe unserem Körper die für die Bewegung und Haltung notwendige Stabilität, ohne starr und unflexibel zu sein. Dafür sorgen auch die Elastinfasern, die auf das Mehrfache ihrer ursprünglichen Länge dehnbar sind. Ihr prozentualer Anteil ist allerdings im Verhältnis zu den Kollagenfasern eher gering. Die Verformbarkeit der Faszien ist durch ihre wellenartige Anordnung der Kollagenfasern und durch ihre scherengitterartige Vernetzung der Faserzüge gewährleistet.
Wie alle Strukturen des Körpers ist auch das Bindegewebe in einem ständigen Umbauprozess begriffen. Die Konsistenz des Gewebes wird nicht nur durch seine Ernährung, das heißt durch seinen Stoffwechsel, sondern auch durch seine Belastung, seinen Gebrauch bedingt.
Fasziengewebe – das formgebende Organ
Die verschiedenen Funktionen des Fasziengewebes sind noch nicht standardmäßig definiert. Je nach Autor beziehungsweise Autorin werden ihm abweichende Funktionen zugeschrieben. Wenn es möglich wäre, den Inhalt des Bindegewebes zu entfernen, so würde sich an unserem Körper optisch wenig verändern.
Wenn wir hingegen das Bindegewebe entfernen könnten, würde nichts als eine undefinierbare Masse von uns übrig bleiben.
Die formgebende Funktion des Fasziengewebes erfüllt die Aufgabe der Kraft- und Spannungsübertragung einer Körperregion über die Funktionsketten auf das gesamte System. Diese Spannungen werden beispielsweise an der Wirbelsäule als Schmerz wahrgenommen. Für die Therapie bedeutet das, dass
Ursache und Wirkung, also Auslöser und Schmerzregion, häufig räumlich nicht identisch sind. Rückenschmerzen unklarer Herkunft sind ein Paradebeispiel dieser Spannungsweiterleitung über das Bindegewebe. Damit erklärt sich auch, warum Schwangere häufig unter Schmerzen in der Rücken-, Nacken oder Kreuzbeinregion leiden, obwohl diese primär durch die hohe Spannung im Bindegewebe der Bein- oder Bauchdeckenregion ausgelöst werden. Um die Ursache lokaler Spannungen zu verstehen, ist es wichtig, das gesamte System zu verstehen.
Faszien in der Schwangerschaft
Während der Schwangerschaft kommt es zu einer vermehrten Hormonproduktion, unter anderem von Östrogen und Gestagen. Diese führen zu einer Veränderung der Haut und des Bindegewebes. Speziell die vermehrte Produktion des weiblichen Sexualhormons Relaxin führt zu Wassereinlagerungen in den Kollagenfasern. Das daraus resultierende Aufquellen der kollagenen Fasern ermöglicht, neben dem durch die Schwangerschaft einsetzenden Zellwachstum, den fortschreitenden raumfordernden Prozess in
der Bauch- und Brustregion. Diese hormonell bedingte Veränderung des Gewebes macht die Haut von Schwangeren häufig auffallend weich bis schwammig. Unmittelbar nach der Geburt und dem Beenden des Stillens „verliert“ das Gewebe die gebundenen Flüssigkeiten und kehrt zu seiner normalen Struktur zurück.
Grundsätzlich produziert der Körper während einer Schwangerschaft wenig neues Gewebe. Das ist aus rein „wirtschaftlichen“ und Platzgründen erklärbar, denn alle gebildeten Zellen müssen nach der Geburt mit Energie versorgt werden. Wenn sie für den alltäglichen Bedarf funktionell nichts beitragen, würde Energie „verschwendet“ werden und die Organe würden den ohnehin schon begrenzten Raum im kleinen Becken
noch mehr reduzieren. Das Wachstum des Embryos wird durch die begrenzenden knöchernen Strukturen des Beckens in den Bauchraum hinein gelenkt. Dort öffnet sich der Kelch des Beckens und der Raum für das Wachstum wird durch die schwangerschaftsbedingte Einlagerung von Wasser (Relaxin) in den Kollagenfasern des Bindegewebes der Bauchdecke ermöglicht. Der Raum, den der Fötus in den Monaten bis zur Geburt immer mehr nutzt, wird von der Bauch-Rumpfmuskulatur begrenzt. Diese faszialen Muskelhüllen werden fast ausschließlich von Blutgefäßen der Halsregion ver- und entsorgt.
Dicke Füße, schmerzende Waden und schwere Beine sind häufige Symptome während der Schwangerschaft. Das Fasziengewebe als raumgebendes und formendes Organ spielt während der Schwangerschaft eine bedeutende Rolle. Häufige Ursache sind schwangerschaftsbedingte Kompressionen des venösen Schenkels im Blutkreislauf. Diese können zu einem Rückstau in das Kapillarbett der Faszien führen, die unterhalb der Kompression liegen. Das arterielle Blut staut sich dann in die faszialen Räume. Es kommt zu Schwellungen in den Extremitäten, zu Blockaden im Iliosakralgelenk (ISG) und Überlastungen des muskuloskeletalen Systems. Der erhöhte Innendruck in den Faszien aktiviert die Schmerzrezeptoren.
Jede Schwangere macht es intuitiv richtig: Sie entlastet ihre Bauchdecke, indem sie sich auf den Bauch fasst und die Haut nach oben schiebt. Sie legt sich auf den Rücken oder auf die Seite und weicht damit der
Schwerkraft aus, die das venöse System komprimiert, zusätzlich zu dem inneren Druck durch das Kind. Diese Symptomatiken können nur optimal therapiert werden, wenn die strukturelle Beschaffenheit und die vielseitige Funktionalität des Fasziengewebes erkannt und verstanden werden.
Erhöhter Innendruck der Faszien
Verständlich werden viele der schwangerschaftsbedingten Symptome, wenn wir uns entsprechende anatomische Prozesse in den jeweiligen Strukturen vor Augen führen. In Abbildung 1 ist schematisch der Rumpf einer Schwangeren im Querschnitt auf der Höhe des dritten Lendenwirbels dargestellt. Das Zentrum des Bildes wird von der Plazenta ausgefüllt, die durch das kontinuierliche Wachstum des Embryos immer mehr Raum für sich fordert. Diese Erweiterung des Innenraumes wird zwar durch das schwangerschaftsbedingte hormonelle Aufquellen des Bindegewebes ermöglicht, stößt allerdings häufig in den letzten Schwangerschaftswochen durch die sehr schnellen Wachstumsprozesse des Embryos an
seine Grenzen. Diese Grenzen werden von den auf der Abbildung dargestellten Strukturen geformt. Es sind das Peritoneum, die innere Rumpffaszie (Fascia transversalis abdominis), die Rumpfmuskulatur beziehungsweise Bauchmuskulatur, die äußere Rumpffaszie (Fascia abdominalis superficialis), das Unterhautfettgewebe und die Lederhaut. Diese anatomischen Strukturen, mit Ausnahme der inneren und äußeren Rumpffaszie, bestehen zu einem Großteil aus zellulär gebundenen Flüssigkeiten, welche von dem sie umgebenden und durchdringenden Fasziengewebe begrenzt werden. Durch das schnelle Wachstum des Embryos kann es bei manchen Schwangeren zu einem erhöhten Druck auf die „Faszienhüllen“ kommen. Das kann zu Stauung im Gewebe führen und dadurch zur Aktivierung der Schmerzrezeptoren.
Die Beweglichkeit wird eingeschränkt.Ist dies der Fall, muss der venöse Abfluss von Kompressionen befreit und der erhöhte Innendruck des Bindegewebes reduziert werden.
Die vier Räume des Rumpfes
Innerhalb des Rumpfes befinden sich vier Räume, in denen jeweils ein eigenes Druckniveau herrscht (siehe Abbildung 1). Diese vier Räume haben während der Schwangerschaft für die Organe des Verdauungstraktes eine wichtige Bedeutung. Sie gewährleisten, dass trotz des raumfordernden Prozesses der Schwangerschaft die Funktionen der einzelnen Organe weitgehend ungehindert möglich sind. In der Brusthöhle (Cavitas
thoracica), die durch das Zwerchfell von der Bauchhöhle abgegrenzt wird, herrscht ein Unterdruck. Die Tiefe der möglichen Atemzüge hängt direkt von der Position der Organe des Verdauungstraktes ab. So sind Beschwerden wie Kurzatmigkeit oder Sodbrennen durch das Wachstum des Embryos bedingt, das zu
einer Verdrängung des Magens und der Leber nach oben in Richtung Zwerchfell führt. In der Bauchhöhle (Cavitas peritonealis) herrscht im Gegensatz zur Brusthöhle ein Überdruck.
Das Bauchfell umschließt den gesamten Verdauungstrakt und überdeckt die Organe des kleinen Beckens. In diesem dritten Raum herrscht ein doppelt so hoher Überdruck wie im großen Becken. Der durch den Embryo auf den Enddarm beziehungsweise die Blase übertragene Druck kann zu zeitweiser Verstopfung oder starkem Harndrang führen.
Als vierter Raum in der Bauchregion ist der Retroperitonealraum (Spaticum retroperitoneale) zu nennen. Wie der Name schon sagt, sind in ihm alle Organe enthalten, die sich hinter dem Bauchfell befinden. Diese spezielle „Konstruktion“ des Bauchraums beinhaltet alle Organe und Gefäße, die durch ihre jeweiligen Funktionen keine größeren räumlichen Veränderungen erfahren dürfen. Natürlich sind diese Räume nicht als in sich geschlossene Kammern zu verstehen, sondern werden sowohl von den Organen des Verdauungstraktes, der Blut- und Lymphgefäße, als auch von den Organen des Urogenitaltraktes miteinander verbunden, indem diese sie streckenweise passieren.
Die fünf Gefäßübergänge
Der Rumpf verfügt nur über fünf Ein- und Ausgänge der Blutgefäße. Über dem Schambein öffnet
sich der Bauchraum für die Hauptschlagader der unteren Extremität (Canalis Femoralis). Fast die gesamte Blutversorgung und Entsorgung muss diesen etwa kleinfingerstarken Kanal passieren. Ein weiterer Gefäßaustritt befindet sich in der gleichen Region, hat aber ein sehr viel kleineres Lumen, das Foramen
obturatorium. Dieses befindet sich unterhalb des Schambeines und gewährleistet den Stoffwechsel für den Hüftkopf und den Schenkelhals des Oberschenkels. Der raumfordernde Prozess der Schwangerschaft führt oft zu einer Kompression dieser vier Gefäßkanäle in der Leistenregion. Es kommt zu einem venösen
Rückstau in die unteren Extremitäten. Dicke Füße, schmerzende Waden und schwere Beine sind die daraus resultierenden Symptome.
Eine für die Schwangerschaft besonders wichtige Öffnung des Rumpfes ist die fünfte, die Thoraxapertura. Sie wird von den ersten Rippen, dem ersten Brustwirbel und dem Brustbein gebildet. Durch die Thoraxapertura erfolgt die Gefäßversorgung der Regionen Kopf, Hals, Arm, Brust. Vor allem aber entstaut
sie die in der Schwangerschaft besonders wichtigen muskulären und subcutanen Faszien der Bauch- und Leistenregion. Adhäsionsbedingte Kompressionen des Venensystems in der Halsregion, die meistens durch frühere Entzündungen der Rachenregion verursacht wurden, können in dieser Region zu einer Rückstauproblematik bis in die Füße führen. Ist dies der Fall, führt das Lösen von Adhäsionen in der Drosselgrubenregion nach kürzester Zeit immer zu einer Entstauung in den unteren Extremitäten.
Der Blutkreislauf
Ernährt werden die bis zu 100 Billionen Zellen unseres Körpers durch das sehr komplexe Leitungssystem der Blutgefäße. Über eine Länge von 150.000 Kilometern gelangt das sauerstoff- und nährstoffreiche arterielle Blut direkt zu den Zellen. Die aktive Diffusion regelt den Stoffwechsel. Speziell der venöse
Schenkel des Blutkreislaufes spielt in der Schwangerschaft eine entscheidende Rolle. Da er über keinen eigenen Innendruck verfügt, ist er sehr anfällig für jede Art der Kompression. Jede Arterie endet in einem Kapillarbett. Dieses wird von einer Faszie umhüllt, die eine im Körper vorkommende Zelle repräsentiert.
Diese Zellverbände bilden ein ihrer Funktion entsprechendes Organ.
Das Venensystem wird auch als Kapazitätsgefäß bezeichnet, da es drei Viertel des Blutes aufnimmt. Die vom Herzen kommenden oder zum Herzen gehenden Gefäße durchstoßen an wenigen anatomischen Positionen das Bindegewebe. Diese „Löcher“ im Gewebe sind potenzielle mechanische Schwachstellen
und sie sind in der Regel faszial speziell verstärkt. Dieses für den Bluttransport wichtige Röhrensystem ist teilweise mit dem Bindegewebe verwachsen und endet vergleichbar den Wurzeln eines Baumes an den Zellen. Dort verankert es sich mit immer kleiner werdenden Gefäßen im Bindegewebe, bis es zu jeder
einzelnen Zelle gelangt. So kommt es über Diffusion zum überlebenswichtigen Stoffwechsel.
Flüssig denken
Der menschliche Körper besteht – je nach Lehrbuch und Definition – zu 60 bis 80 Prozent aus zellulär gebundener Flüssigkeit. Um den Stauungen im Fasziensystem und den daraus resultierenden Symptomen in der Therapie und speziell in der Schwangerschaft richtig begegnen zu können, muss dies verstanden sein. Das Bindegewebe ist semipermeabel, das bedeutet, dass bestimmte Substanzen es passieren können, andere dagegen nicht. Es fungiert wie ein Filter, in dem Informationen „hängen bleiben“ können. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Gedächtnis“, in dem alle Informationen der Vergangenheit gespeichert werden. Das Bindegewebe spielt für unsere Gesundheit im Allgemeinen eine wichtige Rolle, da eine ganze Anzahl von Abwehrzellen in ihm patrouilliert und feindliche Eindringlinge abtötet. Damit alle Körperzellen leben und arbeiten können, benötigen sie eine intakte Infrastruktur. Diese wird durch ein System von Arterien, Venen und Lymphgefäßen gewährleistet. Dr. Andrew Taylor Still verglich das Bindegewebe mit einem Acker, der nur bei optimaler Be- und Entwässerung den gewünschten Ertrag, also Gesundheit, hervorzubringen in der Lage ist.
Der Beckenboden
Wenn man den Körper mit einem einstöckigen Haus vergleicht, dann bilden die Fußsohlen das Fundament, der Beckenboden den Boden des ersten Geschosses und das Zwerchfell dessen Decke. Der Zungenboden und die Hirnhäute stellen horizontale Verstrebungen des Dachstuhles dar und die Kopfschwarte die Dachziegel. Das Skelett, die Organsäule und die Muskeln repräsentieren die Mauern, Türen und Fenster, welche die horizontalen Ebenen (Diaphragmen) miteinander verbinden. Dieser Vergleich soll deutlich machen, dass es nicht möglich ist, ein Element, wie zum Beispiel den Beckenboden, alleine zu behandeln. Er ist als unterster Abschluss des Rumpfes die erste horizontale Ebene, die mit den aufsteigenden Muskelketten der unteren Extremität verbunden ist. Auch die obere Stockwerke, Zwerchfell,
Bauchmuskulatur und Organsäule haben direkten Einfluss auf ihn.
Um die Schwangere für die Geburt optimal vorzubereiten, sollten Übungen gewählt werden, welche die Wahrnehmung des Beckenbodens fördern und die koordinativen Aspekte für den Beckenboden berücksichtigen. Unphysiologische Asymmetrien (Narbengewebe) im Fasziengewebe verdienen therapeutische Beachtung und müssen individuell gelöst werden.
Psoas-Hypertonie in der Schwangerschaft
Die Hypertonie des Psoas major ist nach Praxiserfahrungen eher reaktiv als ursächlich zu verstehen. Wenn ein Muskel hyperton zu sein scheint, sollte sich der Therapeut nicht fragen, wo, sondern warum spannt diese Muskulatur an. Der Psoas major spielt als wirbelsäulennaher Muskel eher eine reaktive als eine ursächliche Rolle. Seine faszialen Verbindungen zum Zwerchfell, das seinerseits mit dem
transversalen Bauchmuskel verbunden ist, sollte bei einer Schwangerschaft und der bevorstehenden Geburt berücksichtigt werden. Auch seine funktionelle Verkettung zu den Adduktoren, die ihrerseits mit dem Wadenmuskel verbunden sind, muss bei der Suche nach der Ursache unbedingt berücksichtigt werden. Man bedenke nur die Häufigkeit von stauungsbedingten Muskelschmerzen der Wadenregion während einer Schwangerschaft. Diese Spannungsübertragungen der unteren Glieder der Faszienkette
auf die faszialen Glieder der Beckenregion werden in der Therapie häufig nicht berücksichtigt.
Faszien unter emotionalem Stress
Schwangerschaft und Geburt sind eine spezielle Lebensphase und bringen sehr viele Veränderungen in das Leben der werdenden Mutter. Unsicherheiten, Ängste, Gefühle von Überforderung, Furcht vor dem Geburtsprozess und den zu erwartenden Schmerzen, auch eine wirtschaftlich veränderte Situation können zu emotionalen Belastungen und damit zu Stress führen. Bei chronischem Stress werden ununterbrochen Katecholamine ausgeschüttet. Die Produktion der für die Geburt wichtigen Endorphine und Oxytocine wird gehemmt, diese müssen vielfach künstlich zugesetzt werden. Emotionaler Stress erhöht den Symphatikotonus und macht sich als Spannung im gesamten Fasziensystem bemerkbar. Damit wirkt er einem natürlichen Geburtsablauf entgegen.
Es ist zwar bekannt, dass Stresshormone eine vasokonstriktorische Wirkung auf die Muskulatur der Blutgefäße haben und dass die Blutgefäße selbst durch die Ausschüttung von sogenannten Endothelien zu einer Verengung der Gefäße führen. Neu ist aber die wissenschaftliche Erkenntnis, dass die Faszien
selbst direkt auf Stress reagieren. Dr. Robert Schleip, einer der im Moment populärsten Faszienforscher, konnte dies in einer neueren Studie belegen. Stressverarbeitung ist demnach eine folgerichtige Bedingung für eine optimale Geburtsvorbereitung. Durch eine Synchronisation der beiden Hirnhälften können belastende Emotionen bearbeitet und aufgelöst werden. Der Sympathikustonus sinkt und die Faszien entstauen sich. Die Hormone können ungestört fließen, die Schmerzakzeptanz erhöht sich. Die Frauen benötigen weniger Medikamente. Sie erleben die Geburt entspannter.
Die tägliche Praxis
Alle medizinischen, therapeutischen oder pflegende Berufe arbeiten seit jeher mit diesen grundlegenden Gewebestrukturen. Es ist also eigentlich nichts grundlegend Neues. Und dennoch revolutionieren die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Fasziengewebe unser therapeutisches Denken und Handeln. Sie erweitern unseren Horizont für das Detail und mehr noch für die größeren funktionellen Zusammenhänge, von denen wir immer noch zu wenig wissen.
Die neuen Denkmodelle geben uns Antworten auf Phänomene, die wir vielleicht aus der Praxis kennen, uns aber bislang noch nicht erklären konnten. Und sie werfen wiederum neue Fragen auf, die bislang noch nicht im Raum standen. Die Arbeit mit und an der Patientin ist und bleibt ein spannendes Unterfangen, das uns immer wieder zu neuen Überlegungen, Erkenntnissen und Arbeitsschritten herausfordert.